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Vegetarismus

Vegetarismus (v. lat. vegetus, »gesund, munter«), eine Lebensanschauung, die darauf ausgeht, Gesundheit des Körpers und Geistes und hiermit vollen Lebensgenuss sich zu verschaffen, ohne zugleich sich durch üble Gewohnheiten und Genussmittel zu schädigen oder sittlich Schuld auf sich zu laden. Der Vegetarismus findet seinen Lebensgenuss in möglichst getreuer und reiner Verfolgung der Naturgesetze, weshalb Eduard Wilhelm Baltzer die sozusagen zum Kanon gewordene Definition gegeben hat: »Vegetarismus ist die bewußte Erfüllung unsrer Lebensbedingungen«. Das, was das Tier und die Pflanze unbewusst erfüllen, will der Vegetarismus also in voller Erkenntnis auf sich und seine ganze Lebensführung anwenden, die Segnungen der Kultur dabei voll mit genießen, ihre Auswüchse und Schädigungen aber sorgsam vermeiden.

Zu den nicht nur entbehrlichen, sondern unmittelbar schädlichen Genussmitteln rechnen die Vegetarier in erster Linie alle Fleischspeisen, weshalb die Vermeidung des Fleischgenusses das äußere Merkmal für sie geworden ist. Für die Außenstehenden hat dies zu dem Irrtum geführt, die Enthaltung vom Fleischgenuss sei allein schon der Vegetarismus überhaupt. Der Vegetarismus verwirft den Fleischgenuss aber nicht nur aus hygienischen, sondern auch aus sittlichen, ästhetischen und volkswirtschaftlichen Gründen. Da indes die nichthygienischen Gründe von Gegnern kaum jemals zum Gegenstand einer Bekämpfung gemacht worden sind, spielt sich der Streit um die Berechtigung des Vegetarismus fast ausschließlich ab zwischen den Vegetariern einerseits und den Medizinern andererseits, welch letztere die hygienischen Lehren des Vegetarismus über den Fleischgenuss vielfach aus anthropologischen und physiologischen Gründen bekämpfen (Virchow, Ludwig, Funke, Hueppe, Ewald, Ebstein), sie aber auch zum Teil anerkennen (Albu, Caspari) oder sie geradezu als Bestandteil des Heilschatzes annehmen (dietätische Ärzteschule: v. Leyden, Goldscheider, Schweninger, Niemeyer, Nothnagel, v. Noorden, Haig, Alcott, Reich, Böhm, Bachmann, Klencke, Ziegelroth, Kleinschrod).

Alkoholgenuss und alle Narkotika, arzneiliche Heilmittel, Impfungen, Vivisektion werden vom Vegetarismus bekämpft, Bodenreform, Gartenstadtbewegung und genossenschaftliche Siedlungen dagegen unterstützt, letztere insofern, als sie Gelegenheit bieten, die hygienischen und sittlichen Schäden des gesellschaftlichen und besonders des Großstadtlebens zu vermeiden und den Obstbau sowie gesundes Landleben zu ermöglichen. So ist z. B. die 200 Morgen große bodenreformatorische Obstbaukolonie Eden in Oranienburg bei Berlin, die über 60 Familienwohnungen enthält, eine fast ausschließlich vegetarische Gründung. Zu anderen ähnlichen Siedlungen sind neuerdings im In- und Ausland Ansätze vorhanden. Eine Überspannung und Ausartung der vegetarischen Grundsätze ist das sogen. Naturmenschentum, das auf Rousseaus »Zurück zur Natur« sich stützend die Kultur in Bausch und Bogen verwirft. Die Zahl der Vegetarier in Deutschland wird [1909] auf 10.000 geschätzt, die indes bei weitem nicht alle organisiert sind. Verschiedenen neueren Studien zufolge leben heute rund drei bis acht Millionen Deutsche vegetarisch.

Sammelplatz der Vegetarier sind die in vielen deutschen Groß- und Mittelstädten bestehenden Vegetariervereine sowie insbes. der »Deutsche Vegetarierbund« (juristische Person, Sitz Leipzig), der von Frankfurt am Main aus geschäftlich geleitet wird und als führendes Organ die »Vegetarische Warte« (41. Jahrgang 1908) herausgibt. Im englischen Sprachgebiet ist die Bewegung schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts literarisch hervorgetreten (Graham, Newton, Alcott, Trall, Kellogg, Haig, Oldfield) und seit etwa 60 Jahren organisiert, in Deutschland erst seit 1867. Ferner bestehen vegetarische Organisationen und Zeitschriften in fast allen übrigen europäischen Ländern und von Europäern besiedelten Überseeländern. Das in deutschen vegetarischen Stiftungen, meist für Kindererziehung, angelegte Kapital beträgt über 800.000 Mark; die größte ist das Baronsche vegetarische Kinderheim in Breslau (von Prof. Julius Baron testamentarisch mit rund ½ Mill. dotiert). Begründer der deutschen vegetarischen Bewegung und Literatur war Eduard Baltzer. Die ältere (auch von Baltzer noch gebrauchte) Bezeichnung »Vegetarianer« ist eine sprachlich falsche Bildung aus dem englischen Adjektiv vegetarian. Die Annahme, dass Vegetarismus Vegetabiliengenuss bedeute, ist etymologisch unrichtig. Es gibt indes Vegetarier, die sich in ihrer Ernährung ausschließlich auf Vegetabiliengenuss beschränken [Veganer]. Hinsichtlich des letzteren hat Voit 1886 erklärt, dass eine richtige Ernährung des Menschen mit Vegetabilien allein möglich ist und in den Lehren der Wissenschaft nicht widerspricht.

Bibliographie

  • Albu, Albert: Die vegetarische Diät (Leipz. 1902)
  • Andries, Dr. Paul: Der Vegetarismus und die Einwände seiner Gegener (Leipz. 1893)
  • Baltzer, Eduard: Die natürliche Lebensweise (4. Aufl., Leipz. 1902, 4 Bde.)
  • Bircher-Benner: Grundzüge der Ernährungstherapie (2. Aufl., Berl. 1906)
  • Caspari, Wilhelm: Physiologische Studien über Vegetarismus (Bonn 1905)
  • Gleïzès, Jean-Antoine: Thalysie, ou la nouvelle existence (Par. 1821; 2. Aufl. 1842, 3 Bde.; deutsch, Berl. 1873)
  • Graham, Sylvester: Die Physiologie der Verdauung und Ernährung (Köthen 1880)
  • Hahn, Theodor: Der Vegetarianismus (2. Aufl., Berl. 1874)
  • Hahn, Theodor: Die vegetarische Diät (3. Aufl., Köthen 1882)
  • Haig: Diät und Nahrungsmittel (2. Aufl., Berl. 1905)
  • Hueppe, Ferdinand: Der moderne Vegetarianismus (Berl. 1900)
  • Nagel, Dr. med. Richard: Das Fleischessen vor dem Richterstuhl (17. Aufl., Braunschw. 1907)
  • Schlickeysen, Gustav: Obst und Brot (3. Aufl., Leipz. 1894)
  • Sponheimer, Julius: Der Vegetarismus, eine wirtschaftliche Notwendigkeit (Berl. 1905)
  • Springer, Robert: Enkarpa. Kulturgeschichte (Frankf. 1884)
  • Struve, Gustav: Die Pflanzenkost, die Grundlage der neuen Weltanschauung (Stuttg. 1869)
  • Suchier: Der Orden der Trappisten und die vegetarische Lebensweise (2. Aufl., Münch. 1906)

Vegetarische Kochbücher schrieben Baltzer, Barnbeck, Bircher, Brandenburg, Gartenheim, Goßmann, Hahn, Reckziegel, Rost, Schulz, Springer, Volchert, Weilshäuser, u. a.

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909